Der sogenannte Masernprozess hat in den vergangenen Jahren nicht nur die Medienlandschaft bewegt, sondern auch grundlegende Fragen zu wissenschaftlicher Methodik und rechtlichen Auseinandersetzungen aufgeworfen. Im Mittelpunkt stand Dr. Stefan Lanka, ein deutscher Biologe und Impfkritiker, der durch seine kontroversen Ansichten zu Viren und Impfungen Bekanntheit erlangte. Hier ist eine kurze Zusammenfassung des Falls, der die wissenschaftliche und rechtliche Gemeinschaft gleichermaßen spaltete.
Hintergrund des Falls
Dr. Stefan Lanka bot 2014 öffentlich eine Belohnung von 100.000 Euro für den wissenschaftlichen Nachweis der Existenz des Masernvirus an. Dieser Nachweis sollte durch die Vorlage einer (!) wissenschaftlichen Arbeit gelingen.
Diese Herausforderung lockte den damals noch angehenden Arzt David Bardens, der den Beweis in Form von 6 (!) wissenschaftlichen Studien antrat, die seiner Meinung nach die Existenz des Masernvirus bewiesen. Als Lanka die Auszahlung der Belohnung verweigerte, reichte Bardens Klage ein, was den Beginn eines komplexen Rechtsstreits markierte.
Erste Instanz: Das Urteil des Landgerichts Ravensburg
Das Landgericht Ravensburg Urteil vom 12.03.2015, Az. 4 O 346/13 entschied zugunsten von Bardens. Es urteilte, dass die eingereichten Beweise den wissenschaftlichen Nachweis der Existenz des Masernvirus erbrachten und Lanka somit die ausgelobte Belohnung von 100.000 Euro zahlen müsse.
Das Urteil ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es handelt sich um ein sogenanntes Stuhlurteil, das von der Kammer unmittelbar nach Abschluss der umfangreichen Beweisaufnahme gefällt wurde. Während der Befragungen traten jedoch erhebliche Unsicherheiten zutage, die auch zwischen den Richtern der Kammer selbst erkennbar waren. Diese Dynamik unterstreicht die Komplexität des Falls und die Herausforderungen, wissenschaftliche Fragen in einem rechtlichen Kontext zu bewerten.
Ein entscheidender Punkt war die Anhörung des gerichtlich bestellten Sachverständigen in der ersten Instanz. Dieser musste einräumen, dass keine der vorgelegten wissenschaftlichen Arbeiten die sogenannten Koch’schen Postulate erfüllte.
Diese Postulate gelten als ein zentraler Standard, um nachzuweisen, dass ein spezifisches Pathogen eine Krankheit verursacht. Besonders bemerkenswert war die Erwähnung der Enders-und-Peebles-Studie, die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft oft als Schlüsselstudie zum Masernvirus angesehen wird. Der Sachverständige gab jedoch zu Protokoll, dass auch diese Studie die Koch’schen Postulate nicht erfüllte. Viele der von Bardens vorgelegten Studien waren zudem Meta-Studien, die ohnehin nicht den Nachweis des Masernvirus leisten konnten. Für ihre Arbeiten zur Kultivierung des Poliovirus in Zellkulturen erhielten John F. Enders, Thomas H. Weller und Frederick C. Robbins im Jahr 1954 sogar den Nobelpreis für Medizin. Die Enders-und-Peebles-Studie mit dem Titel Propagation in Tissue Cultures of Cytopathogenic Agents from Patients with Measles wurde derweil zur wissenschaftlichen Grundlage für die Behauptung der Existenz des Masernvirus.
Zweite Instanz: Berufung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart
Lanka legte Berufung ein und argumentierte, dass die Beweise von Bardens unzureichend seien, um den wissenschaftlichen Nachweis der Existenz des Masernvirus zu erbringen.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hob das Urteil der ersten Instanz auf, OLG Stuttgart, Urteil vom 16.02.2016, Az. 12 U 63/15.
Es entschied, dass die von Bardens vorgelegten Studien nicht den Anforderungen der Auslobung genügten, um die Existenz des Masernvirus zweifelsfrei nachzuweisen. Jedenfalls keine einzige der vorgelegten Studien erfüllt – jeweils für sich genommen – den geforderten Nachweis, was allerdings Gegenstand der konkreten Formulierung der Auslobung von Lanka war.
Folglich wurde die Klage von Bardens abgewiesen, und Dr. Lanka musste die 100.000 Euro nicht zahlen.
Das OLG Stuttgart beließ es bei den Feststellungen der ersten Instanz, wonach aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens bewiesen sei, dass die vom Kläger vorgelegten Publikationen – in ihrer Gesamtheit – den Nachweis für die Existenz und die Erregereigenschaft des Masernvirus belegten. Diese Einschätzung wirkt jedoch konstruiert bzw. widersprüchlich, da keine der Arbeiten den Nachweis isoliert erbringen konnte und insbesondere die zentrale Studie methodische Schwächen aufwies, die deren Aussagekraft doch erheblich beeinträchtigen.
Die Bedeutung der Koch’schen Postulate und wissenschaftlicher Standards
Ein zentraler Aspekt des Prozesses war die Diskussion um die Koch’schen Postulate. Diese Postulate, die vom deutschen Mikrobiologen Robert Koch entwickelt wurden, stellen vier Kriterien auf, die ein Erreger erfüllen muss, um als Ursache einer spezifischen Krankheit zu gelten.
Auch wenn diese Postulate in der modernen Virologie nicht immer uneingeschränkt anwendbar sind (z. B. hinsichtlich der Herstellung einer Nährlösung, die alle Anforderungen der Postulate erfüllt), unterstreicht der Prozess dennoch ihre zentrale Rolle für die wissenschaftliche Nachweisführung. Der Sachverständige im Prozess musste letztlich einräumen, dass keine der vorgelegten Studien, einschließlich der Arbeit von Enders und Peebles, diese Kriterien erfüllte.
Problematisch ist auch, dass die Beobachtungen von Enders und Peebles auch durch zytopathische Effekte (in vitro), z.B. durch Aushungern von Zellkulturen oder durch die Gabe von Antibiotika, hervorgerufen werden können und diese Beobachtungen folglich keine eineindeutigen Rückschlüsse auf die Existenz von Masernviren zulassen.
Folgen und Diskussionen
Der Fall hatte weitreichende Folgen. Einerseits führte er zu intensiven Diskussionen über die Standards wissenschaftlicher Beweisführung und die Verantwortung von Wissenschaftlern, insbesondere wenn sie Behauptungen aufstellen und auf diesen aufsetzen. Andererseits verstärkte er die Kontroversen um Impfungen und die Existenz von Viren, die von Teilen der Öffentlichkeit kritisch betrachtet werden.
Der Masernprozess war mehr als ein rechtlicher Streit um eine ausgelobte Belohnung. Er stellte grundlegende Fragen zur wissenschaftlichen Methodik, zur Bedeutung von Standards wie den Koch’schen Postulaten und zur Verantwortung in öffentlichen Debatten.
Die Erfahrungen der Corona-Pandemie und insbesondere die nun erfolgte Offenlegung der RKI-Files machen deutlich, dass die wissenschaftliche Virologie vor einem Paradigmenwechsel steht. Die bislang vorherrschenden Methoden und Ansätze müssen kritisch hinterfragt und an die neuen Erkenntnisse angepasst werden. Dies betrifft nicht nur die Nachweisführung von Viren, sondern auch die Interpretation epidemiologischer Daten und die Kommunikation von Risiken.
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie entscheidend es ist, wissenschaftliche Standards klar zu definieren und transparent zu handeln, um sowohl das Vertrauen der Öffentlichkeit zu sichern als auch die wissenschaftliche Integrität zu bewahren. Die Offenlegung der RKI-Files bietet eine Chance, Prozesse und Kriterien zu überdenken und die Virologie auf eine fundiertere Grundlage zu stellen.